MEIN VfL 77
Als Reingard Riedel 1926 geboren wird, gab es noch einen Reichskanzler,
wurde im Februar die Lufthansa gegründet und erblickte
auch die britische Königin, Elizabeth II., das Licht der Welt. Es war
eine Zeit, in der Deutschland sich um einen dauerhaften Frieden im
Völkerbund bemühte und die amerikanische Schwimmsportlerin
Gertrude Ederle als erste Frau in die Sportgeschichte einging, weil
sie in 14 Stunden den Ärmelkanal durchschwamm. Als sich das Jahr
dem Ende neigte, starb einer der bedeutendsten deutschsprachigen
Dichter: Rainer Maria Rilke. Derweil wuchs Reingard in Breslau
auf. In der Schule spielte sie Prellball und Völkerball. Zur Sommer-
Olympiade 1936 fuhren ihre Eltern mit dem Rad von Breslau
nach Berlin – 400 Kilometer auf einem klapprigen Drahtesel. Eine
prägende Zeit für das junge Mädchen, in der es Spaß an Bewegung
hat, aber noch niemand ahnt, dass seine große Leidenschaft einmal
der Fußball und ganz besonders der VfL Wolfsburg sein wird.
Erinnerungsbilder mit Marcel Schäfer
3. Dezember 2018. Ein Stadtteil im Westen Wolfsburgs. Die
Eingangs tür steht bereits kurz nach 9 Uhr weit offen. Die Klingel
läutet. „Das ist der VfL“, schallt es aus dem Wohnzimmer. Dort
sitzt Reingard Riedel an einem großen Esstisch. Inzwischen stolze
92Jahre alt. Vor ihr eine kleine Glasschüssel mit Kokosmakronen.
„Das sind die rich tigen“, sagt sie nickend zu Enkel Thoralf Berndt, der
mit ihr und seiner Tochter in dem Einfamilienhaus wohnt. Viele, viele
Bilder – in allen möglichen Größen – hängen an den Wänden, stehen
auf dem Regal und in der braunen Schrankwand. Ihre Familie.
Aber auch zahlreiche Erinnerungen in grün-weiß: Ex-Profi Holger
Ballwanz gratuliert zum Geburtstag, Sportdirektor Marcel Schäfer
drückt sie als aktiver Spieler an sich, mit Siegfried „Siggi“ Reich gibt
sie sich die Hand. Seit fast 30 Jahren ist die rüstige Witwe mit Leib
und Seele Anhängerin der Wölfe. Am Tag zuvor gewann der VfL 2:1
bei Eintracht Frankfurt. „Ich hatte zu Thoralf gesagt, dass uns die
Hessen liegen.“ Deshalb überraschte sie der Erfolg am Main auch
nicht. „Es ist gut, wenn die Mannschaft stabiler wird“, fällt ihr Fazit
nüchtern aus. Wohl auch, weil der Pay-TV-Sender kein Signal abgab
und sehr zum Ärger der alten Dame keine Live-Bilder über den
Bildschirm flimmerten.
Lieblingsplatz Stadion
Reingard Riedel ist fast 100 Jahre auf dieser Welt, den vor ihr liegenden
Sportteil der Tageszeitung liest sie mit der Lupe, die Sportschau
hat sie noch nie gern geguckt, ihr Lieblingsplatz ist das Stadion.
In dieser Spielzeit verpasste sie keine Partie. Ist Reingard nicht da,
machen sich viele Fans Sorgen. Im Sommer des vergangenen Jahres
war sie gestürzt, zog sich eine schmerzhafte Prellung zu und konnte
zum ersten Mal überhaupt einige VfL-Spiele nicht im Stadion verfolgen.
Sie verlor etwas ihren Lebensmut. „Aber jetzt bin ich wieder
fit.“ Das Blutdruckmessgerät auf dem Esstisch? „Ach, wissen Sie, was
hochgeht, geht auch wieder runter. Wichtig ist, dass ich im Kopf klar
bin.“ Und das ist die nette Dame, die zwar den Großteil des Tages
in ihren eigenen vier Wänden verbringt, dafür aber weder einen
Pflegedienst noch irgendwelche Medikamente benötigt.
Gemeinschaft würde fehlen
Seit dem Umzug in die Volkswagen Arena besitzt sie eine Dauerkarte.
Nordkurve, Stehplatz. Fischbrötchen. Überrascht? Ja, es ist
nicht alltäglich. „Oma geht nicht einmal spazieren“, wirft Enkel
Thoralf ein. Aber der Stadionbesuch ist ein festes Ritual. „Sonst fehlt
mir etwas, vor allem die Gemeinschaft!“ Da kann es stürmen, regnen
oder schneien. „Ich ziehe meine dicke Jacke an und wenn mir wirklich
kalt ist, hilft ein Kakao.“ Zur festen Fanbekleidung gehören stets
eine grün-weiße Strickmütze und ein VfL-Schal, den ihr Vertreter
der Supporters Wolfsburg geschenkt haben. Die zahlreichen Trikots,
Lesen Sie weiter auf der nächsten Seite.
UNTER WÖLFEN MAGAZIN